Von Stephan E. Willigens, Bereichsleiter, msg industry advisors ag und Harald Stricker, Abteilungsleiter msg industry advisors ag
Die digitale Transformation hat sich in den letzten Jahren sowohl in der unternehmerischen Praxis als auch in der Wissenschaft und im politischen Diskurs zu einem zentralen Begriff entwickelt. Kein Lebensbereich, keine Unternehmensfunktion, die heute nicht primär im Kontext der Digitalisierung oder verwandter Begriffe wie dem Internet der Dinge oder der Industrie 4.0 diskutiert werden. Es scheint als wäre zum Thema heute alles gesagt, nur noch nicht von jedem. Doch wie so häufig bleibt die Realität hinter den Konzepten zurück. Die Gründe darin liegen insbesondere in der vermeintlichen Komplexität des Themas. Denn die Gefahr ist groß, sich in Taxonomien, Langfriststrategien und technischen Details zu verlieren. Auf der Strecke bleiben dabei ganz konkrete Kundenanforderungen und die Chancen, die neue Technologien und digitale Ökosysteme bieten, um neue Prozesse, Services und Produkte zu entwickeln.
Dekonstruktion analoger Gewissheiten: Wie wirkt digitale Transformation?
Die Frage, wie Unternehmen bei der Neugestaltung kundenorientierter Prozesse und Geschäftsmodelle einen hohen Grad an digitaler Exzellenz erreichen können, lässt sich am besten anhand spezifischer „Migrationspfade“ einzelner Branchen illustrieren, beziehungsweise am Beispiel der Bruchstellen zwischen der klassischen und der digitalen Ökonomie.
Digitale Brüche I: Der Handel
So liegt diese Bruchstelle im Handel typischerweise bei einer veränderten Sicht auf das Endkundenportal. Ein Großteil der Handelsunternehmen ermöglicht es heute ihren Kunden, ihren Account auf einem Portal zu führen. Die „User“ steuern das Endkundenportal an, werden mit einem Post-Ident-Verfahren authentifiziert und melden sich per Login-Name und Passwort an. Nach der Anmeldung können sie – weiterhin auf dem Endkundenportal – ihre Produkte auswählen und konfigurieren und per Lastschriftinformationen oder Kreditkarte bezahlen.
Ein digital transformiertes Handelsunternehmen interpretiert diesen Kernprozess radikal anders. Es verabschiedet sich von der Annahme, dass ein eigenes Transaktionsportal mit allen relevanten Funktionalitäten eine zentrale Rolle in seinem Geschäftsmodell spielen muss. So können Kunden ihre Accounts auf einem Portal ihrer Wahl führen – beispielsweise bei Facebook, Amazon, Google, Apple, PayPal, eBay, oder LinkedIn – und ebenfalls den Identifikationsvorgang dort durchführen. Die Authentifizierung erfolgt über einen elektronischen Personalausweis oder ein vergleichbares Dokument. Weitere Optionen sind die Authentifizierung via SMS, eine Bankkontoabfrage oder über Kreditkartendienstleister. Die Bezahlung erfolgt über das Portal eines Bezahldienstleisters – im Fall von Amazon Payment, PayPal, Google Wallet, oder Apple Pay kann es sich um das gleiche Portal handeln, auf dem auch der Account geführt wird. Im Ergebnis erfolgt lediglich die Produktauswahl und -konfiguration auf dem Portal des Händlers. Diese Veränderung des Kernprozesses im Handel hat enorm weitreichende Konsequenzen für alle involvierten Parteien: Der Händler profitiert von der Auslagerung komplexer Funktionen in die „Cloud“ spezialisierter Anbieter und kann damit seine Flexibilität und Kostenstruktur ebenso optimieren wie sein Risikoprofil und Komplexitätsniveau. Der Kunde ist in der Lage, seine „digitalen Aktivitäten“ wesentlich ökonomischer und einfacher zu gestalten. Darüber hinaus eröffnen sich beiden Transaktionspartnern durch die Integration in ein soziales Netzwerk neue Möglichkeiten – etwa zur Informationsrecherche, Bewertung und Bewerbung von Angeboten oder zum Aufbau neuer Services.
Digitale Brüche II: Prüfungsanbieter
Ein anderes Beispiel dafür, wie digitale Transformation etablierte Abläufe verändert, liefert das Thema Weiterbildung. In den letzten Jahren musste sich die Bildungslandschaft mit vielen Veränderungen auseinandersetzen – die allerdings die Kernprozesse selten betrafen. So sind auch heute die physische Präsenz an einem Prüfungsort und die Teilnahme an der Prüfung in Papierform weitgehend unabdingbar, ebenso wie die physische Aushändigung, respektive der Versand eines Zertifikats, das den Prüfungserfolg belegen soll. Der hohe Anteil analoger Prozessschritte ist dabei insbesondere dem Schutz vor Manipulationen und der Rechtssicherheit geschuldet. Die digitale Transformation bietet nun das notwendige Instrumentarium, um diesen Prozess grundlegend neu zu konstruieren. Bei der kompletten Digitalisierung des Prüfungs- und Zertifizierungsvorganges absolviert der Teilnehmer zunächst die Prüfung auf der Website des Prüfungsanbieters. Ein gängiges Verfahren ist hierbei ein elektronisch durchgeführter Multiple-Choice-Test, wobei sich der Teilnehmer über seine digitale Signatur oder einen elektronischen Personalausweis verifiziert. Zusätzlich kann die Kontinuität des Arbeitsflusses beim Test durch den Anbieter z.B. per Webcam mit Ton überwacht werden, womit auch ausgeschlossen ist, dass eine andere Person die Prüfung absolviert. Basierend auf der Prüfung berechnet der Anbieter das Ergebnis und zeigt ein elektronisches Zertifikat an, das durch eine digitale Signatur vollkommen manipulationssicher ist. Das Zertifikat lässt sich über einen QR-Code mit entsprechender Webadresse abrufen und versenden – beispielsweise an den Personalvorgesetzten, der das elektronische Zertifikat nach Durchsicht in einer Datenbank ablegen kann.
Digitale Brüche III: Kunden
In B2B-Wertschöpfungsprozessen besteht die zusätzliche Herausforderung, dass man eben nicht mit den Endkunden, sondern mit Weiterverarbeitern, Partnerunternehmen oder Zwischenhändlern über Produktanforderungen des Kunden kommuniziert. Das sorgt für lange und komplexe Abstimmungswege, auf denen die tatsächliche Endkundensicht unvollständig oder im schlimmsten Fall gar nicht vermittelt wird. Unternehmen sollten daher mögliche Kontaktpunkte mit Endkunden identifizieren, die im Zuge der digitalen Transformation Kommunikationswege verkürzen und neue Informationsquellen erschließen können.
Weitere digitale Brüche in der Vernetzung mit (End-)Kunden lassen sich durch die Klärung der folgenden Fragestellungen schließen:
- Welche Markteintrittshürden, die mein Geschäftsmodell bislang schützen, sind durch neue Technologien oder Methoden (z.B. in der Finanzierung) angreifbar geworden?
- Welche Teile des Geschäfts könnten auch als Service vermarktet werden und nicht mehr als Produkt? Ergeben sich neue Wertschöpfungsmöglichkeiten?
- Wie steigere ich die Agilität langsamer Prozessabschnitte?
Digitale Brüche IV: Kundenferne Prozesse
Ein gutes Beispiel ist die vorbeugende Instandhaltung von Produktionsanlagen, die häufig noch praktiziert wird. Instandhaltungsmitarbeiter machen Überwachungsgänge und warten die Anlagen nach einem Plan vorsorgend; dabei erfassen sie Betriebsdaten papierbasiert. Eine Auswertung der Daten ist erheblich erschwert, elektronisch verfügbare Daten sind oft nicht verknüpft. Zudem ist nicht feststellbar, ob die richtige Vorbeugung betrieben wird. Hier setzt Predictive Maintenance zur Überwachung des Anlagenzustands und der laufenden Arbeitsprozesse und Total Life Cycle Costs von Produktionsanlagen an. So kann etwa ein Hersteller von flüssigen Industriechemikalien mit einer einfachen technologischen Basis seine Füllstände in den Produktbehältern überwachen: Kleinstcomputer dienen als Steuergeräte zur Datenerfassung, -konsolidierung & -abstraktion, indem sie u.a. Daten wie Füllstände, Temperaturwerte, Betätigungen oder Produktanalysewerte über entsprechende Sensoren erfassen. Eine kontinuierliche Datenauswertung und Mustererkennung ermöglicht es der Instandhaltung jene Parameter, die kritische Zustände für die Anlage begünstigen, zu erkennen und vorzeitig die richtigen Instandhaltungsmaßnahmen zu ergreifen.
Im Unterschied zu früheren IT-Systemen erstreckt sich hier die Vernetzung jedoch über alle Ebenen: die Informationen des Sensors aus dem einen Fertigungsstandort können zum Beispiel in Echtzeit mit anderen Standorten abgeglichen oder in ein standorteigenes Benchmarking der Produktionsleistung integriert werden. Zudem sind alle Daten nicht nur in der Produktionsplanung (Shopfloor Management) nutzbar, sondern auch mit der logistischen Distribution koordinierbar.
Meldet etwa im konkreten Beispiel der Sensor/die Analyse das Überschreiten von miteinander korrelierenden Schwellwerten, wird ein erwarteter Produktionsausfall den Logistikdienstleister fast in Echtzeit mitgeteilt, so dass teure Leerfahrten vermieden werden können. Das alle Daten dabei auf allen mobilen Standardendgeräten verfügbar sind, hat wiederum einen hohen Nutzen für alle Prozessbeteiligten inkl. des Kunden: technische Diagnosedaten werden nicht nur einfacher erzeugt, sondern auch bei hoher Komplexität in einfachen Dashboards und Grafiken anschaulich für den Nutzer aufbereitet. Das erlaubt zudem eine leichtere Administration und Überwachung, zum Beispiel von Kundenanfragen zum Status von Lieferungen oder zur Qualität von Produkten.
Operationalisierbarkeit als Herausforderung
Die vorstehenden Beispiele zeigen, dass die tatsächliche digitale Transformation zwei Elemente erfordert: Es braucht zum einen die Bereitschaft, eingefahrene, nicht mehr hinterfragte Prozesse und Geschäftsmodelle zur Disposition zu stellen. Das gilt vor allem in Hinblick auf neue Möglichkeiten und Risiken – schließlich könnte ein völlig neuer Wettbewerber die gleiche Leistung anbieten, da z.B. die finanziellen Markteintrittshürden durch Venture Capital Geber oder Crowdfunding ausgehebelt werden. Zum anderen ist die Vision eines digitalen, an Kundeninteraktionen und Daten ausgerichteten Unternehmens wichtig. Gerade im B2B Bereich sollte diese Vision Wege zu den Endkunden bzw. Endverwertern der Produkte erschließen, denn diese geben langfristig die entscheidenden Impulse für Produkt- und Prozessverbesserungen, nicht der Weiterverarbeiter oder Zwischenhändler. Eine Aufgabe, die für sich genommen schon anspruchsvoll genug ist.
Die Praxis der letzten Jahre zeigt jedoch, dass ambitionierte Projekte vor allem an der Operationalisierung der Digitalisierungsstrategien scheitern. Hier versagen pauschale Rezepte, denn die Operationalisierung erfordert ein konsequent interdisziplinäres Vorgehen, ist extrem branchen- und unternehmensabhängig sowie auf eine sehr starke Fokussierung angewiesen. Eine Methodik, mit der diese Herausforderung erfolgreich bewältigt werden kann, ist der Digital Transformation Cycle. Der aus der Praxis entwickelte Ansatz basiert auf drei zentralen Thesen:
- Bei der Digitalen Transformation muss die Customer Experience des Endkunden optimiert werden. Dazu ist es entscheidend, sehr konsequent von der Eigen- zur Kundenperspektive zu wechseln, um die veränderten Erwartungen der Kunden optimal zu adressieren.
- Diese Kundenorientierung bedingt unter anderem die fachliche und technologische Vernetzung der Beteiligten – sei es über Web-, Cloud- oder Intranet Lösungen.
- Dadurch wird es zwingend notwendig, die Prozesse und die zugehörige IT-Unterstützung des Unternehmens von lokalen zu übergreifenden, teilweise globalen Strukturen zu verändern.
unterteilt wird. Jede Disziplin besitzt eine feste Rolle, benötigt spezielle Fähigkeiten und liefert einen spezifischen Beitrag zum Ergebnis. Auf jede Disziplin wirkt ein umgebendes Customer Experience Management. Der Digital Transformation Cycle wird iterativ durchlaufen und erzeugt damit Schritt für Schritt das Transformations-Ergebnis inkrementell. Eine Iteration startet jeweils bei der Digital Vision, detailliert diese auf der Ebene der Customer Experience und Digital Experience, bildet diese fachlich in der Business Architecture ab und setzt sie dann in der Applications Architecture und Enterprise Architecture technisch um.
Digital Transformation Cycle – Schritt für Schritt
- Die Disziplin Digital Vision beschreibt die Strategie, wie das Unternehmen seine bestehenden Produkte und Prozesse veredeln, neue Produkte und Prozesse etablieren und neue Märkte erobern will. Produkte werden dabei in Güter und Dienstleistungen unterteilt, Prozesse in Kommunikationskanäle und Interaktionen.
- Bei der Disziplin User Experience werden die Kontaktpunkte des Kunden mit dem eigenen Angebot identifiziert und so ausgerichtet, dass ein optimales Kundenerlebnis entsteht.
- Digital Experience beschreibt konzeptionell, wie die neue Customer Experience mit Hilfe von Technologien umgesetzt werden kann. Sie dient insbesondere auch als wichtige Feedback-Schleife für die Disziplin User Experience und erzeugt die notwendige Spannung, um etablierte Muster zu hinterfragen und Prozesse auf technologischer Basis neu zu interpretieren. Zu den aktuell vielversprechendsten Bausteinen zählen dabei Technologien wie Mobile Computing, Social Networking, Analytics, KI und das Internet of Things.
- In der Disziplin Business Architecture findet die „Zerlegung“ in die fachlichen Komponenten statt, insbesondere Daten, Prozesse, Services und User Interface. Diese werden anschließend so verändert, dass sie den neuen Anforderungen gerecht werden.
- Die fachliche und technologische Vernetzung und Einbettung des Geschäfts direkt im Internet bedeutet auf der Ebene der IT insbesondere die Nutzung von Clouds: Services können in der Cloud entwickelt, bereitgestellt oder von Drittanbietern integriert werden. Entsprechend beschreibt die Disziplin Application Architecture eine dafür notwendige Architektur.
- Clouds als neue IT-Ressourcen spielen im Prozess der Digitalen Transformation eine herausragende Rolle, da fast immer zwei unterschiedliche Welten optimal und sicher miteinander integriert werden müssen. Die Disziplin Enterprise Architecture definiert die hierfür notwendige, unternehmensspezifische Integrationsstrategie.
Digital Transformation Cycle Quelle: msg industry advisors

Start smart!
Der Einsatz des Digital Transformation Cycle ist eine strukturierte und praxisnahe Methode, um den Einstieg in einen zweifelsohne notwendigen, gleichzeitig aber tiefgreifenden und komplexen Veränderungsprozess zu finden, an dessen Ende im Extremfall die „Neuerfindung“ des gesamten Unternehmens stehen kann. Gerade angesichts dieser Herausforderung empfiehlt sich ein pragmatisches, undogmatisches Vorgehen. Dieses sollte mit einem offenen Blick auf die neue digitale Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten sowie mit einer ehrlichen Beurteilung der eigenen digitalen Reife starten. Damit wird das Fundament gelegt, um ein konsequentes Customer Experience Management zu installieren und Proof of Concepts und dann kleinere „Leuchtturmprojekte“ durchzuführen, um konkrete Erfahrungen zu sammeln. Ist dies geschafft, stellt die Durchführung eines weiter reichenden Projektes zur Transformation eines Produkts, Services oder Prozesses keine unüberwindbare Hürde mehr dar – vor allem aber keinen Blindflug durch den Nebel der Digitalisierung.

Stephan Willigens
Stephan Willigens ist seit 2012 für die msg-Gruppe tätig und verantwortet seitdem den Bereich Supply Chain Management. Darüber hinaus hat er die Zuständigkeit für das Industriesegment der Diskreten Fertigung inne. Stephan Willigens war 13 Jahre in verschiedenen internationalen Management Funktionen für die DIAGEO Gruppe tätig. Nach seiner zweijährigen Erfahrung im Flughafen-Umfeld in Dubai übernahm er in der Zeit von 2008 bis 2012 den Aufbau des Bereiches Supply Chain (Plan & Deliver) bei der internationalen Unternehmensberatung BrainNet. Die Arbeitsschwerpunkte von Stephan E. Willigens liegen insbesondere in den Bereichen Stückgutindustrie und internationales Supply Chain Management.

Harald Stricker
Harald Stricker verantwortet seit 2014 den Bereich Business Critical Applications, in dem die IT bezogenen Aktivitäten der msg industry advisors gebündelt sind. Der Diplom-Ingenieur und Wirtschafts-Ingenieur ist unter anderem auf aktuelle Themen wie die Digitalisierung von Geschäftsprozessen in Administration und Fertigung sowie auf alle Themen rund um Supply-Chain-Planung und Manufacturing Execution spezialisiert. Solide Kenntnisse im Bereich IT-Management sowie Business Intelligence runden sein breites Spektrum ab.